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Kurzgeschichte: Die Farben des Sonnenaufgangs, und seine Farben

 

Sie stand alleine an einer Bushaltestelle, neben einem Typen, der aussah wie ein schönes Bild. Nicht etwa eines von denen, die bei einer Ausstellung in der Mitte der weißen Wände hängen, und unter dem sich eine Traube Kunstwissenschaftler versammelt um es stundenlang zu analysieren. Eines, das allen bekannt ist. Nein, er war ein Bild in einer Bar, in der sich jeden Abend dieselben Menschen zum Trinken trafen. Das Bild hing in einer Ecke, darauf zu sehen ein Sonnenaufgang am Meer. Und die Farben waren nebeltriefend und schön und alt. Und das Bild hing dort, fiel niemandem auf seit Jahren, und wenn es jemand sah verwünschte er es und seine blassen Farben, und es hätte nicht gefehlt, hätte man es abgehängt. Doch es hing dort.

 

Und die Tage vergingen,

 

und sie traf ihn jede Woche, und sah ihn an, und sein Anblick stahl ihre Zeit und ihr Herz. Stundenlang, sie konnte ihn betrachten und ihr fiel jede Minute ein neues schönes Detail auf. Und sie sprachen und er war für sie schön.

 

Und so kam es, dass sie in diesem Lokal, in dem das Bild hing, einmal in der Woche am frühen Abend einen Wein bestellte.

 

Sie war alleine und angetrunken. Und sie trank auf den Sonnenaufgang und noch eine Flasche.

 

Sie sah das Bild und keinen Ausweg.

 

Sie sah das Bild jede Woche, und die Wellen und die blassen, nebligen Farben.

 

Und die Sonne.

 

Wie traurig, dachte sie, jeden Abend aufgehend gefangen zu sein, und es nie über den Horizont hinaus zu schaffen.

 

Er war schön, und gefangen. Und sich nicht sicher.

 

Und sein Blau und Rosa und Orange tropfte von seinen Lippen, und er atmete Nebel.

 

Sie sah die Farben. Sie waren überall, auf seiner Zigarette, im Rauch, an seinen Händen, an seinem Pulli und seinen Haaren, an seiner Seele.

 

Er berührte sie und ihren Körper.

 

Sie kam immer seltener, um über ihre Trauer und ihr Ende nachzudenken, sie kam immer häufiger, um Zeit mit sich selbst und dem Bild zu verbingen, sie trank Wasser und betrachtete das Bild und die Menschen. Und sie schrieb eine Geschichte, über das Meer, die Farben, die Sonne und den Nebel und die Schönheit.

 

Und bei jeder Berührung ließ er einen Fleck zurück auf ihr und ihrem Körper. Die Farben sammelten sich in ihren Narben und Alpträumen.

 

Sie lachte, und sie sprach mit ihm lange und schwieg, sie erzählte von den Wellen am Meer und lachte lange, sie hielt seine Hände und liebte ihn.

 

Er stand alleine an der Bushaltestelle und fragte sich, wann er sie wiedersehen würde.

 

Er sah auf seine Hände.

 

Er sah graue Farben, langsam tropfend wie Honig, und bitter wie Zigarettenrauch.

 

Sie sah ihn und sah dieses Bild. Und sie wusste dass ihn niemand so verstand wie sie.

 

Niemand sah das nebeltriefende Bild in der Ecke einer Bar, sie dafür liebte es.

 

Sie sah ihn warten aus der Ferne. Umhüllt von buntem Rauch.

 

Sie stand vor ihm und nahm seine Hände, seine bunten Farben tropften auf ihre Finger.

 

Und seine Augen waren die aufgehende Sonne.

 

Er sah seine graue Farbe auf ihren Fingern und es tat ihm leid.

 

Nur sie,

 

sie sah den Sonnenaufgang und die Farben.

 

Nur sie sah ihn.

 

Text von: Lorena May, MSS 12

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